2003 begann ich mit Nachforschungen und Recherchen zu den Inhalten eines nachgelassenen Briefes meines Urgoßvaters an meinen 1986 verstorbenen Großvater. Früher hatte ich diesen Brief als Kopie gelegentlich in der Hand, verfügte nun aber seit dem Tod meiner Mutter 1986 im Original über ihn. Bereits 1977 bat meine Mutter beim damaligen "Verlag Der Nation" Berlin unter Bezug auf die 1977 erschienene Autobiographie der Schau -spielerin Mischket Liebermann „Aus dem Ghetto in die Welt“ um Unterstützung in Nachforschungen über Julius Arnfeld. Dieser Bitte wurde damals nicht entsprochen. Mit dem Brief hatte ich damals das erste Mal die Dar- stellung eines Lebensweges in der Hand, die so gar nicht in meine Vorstellungswelt von der Zeit des Faschismus in Deutschland, des „1. und 2. Weltkrieges“ und der Judenverfolgung passte.
Durfte, sollte und konnte ich diesen Schilderungen meines Urgroßvaters trauen? Ich vermisste einen entspre -chenden Rückhalt – die Gunst, in der sich Julius Arnfeld bei meinen Verwandten befand, schwankte recht heftig, wie es so auch in anderen Familien vorkommen kann - also begab ich mich selbst auf Spurensuche, die bis
heute andauert und noch lange nicht beendet ist.
Julius Arnfeld hat trotz der Bedrohungen und Gefahren seiner und der Verfolgung seiner jüdischen Mittmenschen die Vielfalt des Lebens genutzt und sie mit geprägt. Er hat den Platz eingenommen, der ihm geraten schien. Er hielt sich an den Wahlspruch: „Dies über alles: Sei Dir selber treu!“ Dazu hatte er das Recht.
Während der Spurensuche befasste ich mich mit der Spezifik des Ghettolebens in Theresienstadt, dessen kul -turelles Leben heute als Zentrum europäischen Kulturlebens der damaligen Zeit bezeichnet wird. Er, wie viele andere Vortragskünstler auch, gab sich und anderen Menschen mit seiner Vortragskunst unter unvorstellbaren Bedingungen und mit dem Einsatz aller körperlichen und geistigen Kräfte Halt, was die gegenwärtig grassie -rende Manie der Suche und Auswahl sowie Selbstinszenierung von "Stars" in Castingshows äußerst fragwürdig und peinlich erscheinen lässt. Später befasste ich mich ebenso intensiv mit dem Leben jüdischer Menschen in Deutschland, deren Geschichte und der Geschichte des Antisemitismus.Nach kurzer Zeit kam ich noch 2003 zu dem Schluss, dass sich die Vorgänge im Ghetto Theresienstadt schwerlich mit menschlichen Maßstäben messen lassen. Und – ich interessierte mich für die Menschen, die Julius Arnfeld nahestanden und denen er nahestand, so z. B. Menschen, die ihm halfen, diesen Weg bis zum Äußersten zu gehen.
Ebenso interessierte ich mich für die Lebensumstände, die dieses Handeln ermöglichte oder herausforderten.
Ich versuchte allen überprüfbaren Angaben des Briefes in Archiven und auch in der Sekundärliteratur nach -zugehen. Viele Male führte mich der Weg zu meiner Familie, die mich bei meiner Spurensuche mit unterschied -lichem Anteil unterstützte und es auch gegenwärtig noch tut.
Ich erfuhr große Bereicherung mit dem Kennenlernen eines reichen sozial - kulturellen Lebens und zahlreicher interessierender Menschen, die sich mit ähnlichen Lebensstationen und Hintergründen befassten und mich uneigennützig und vorbehaltlos unterstützten.
Dies war und ist für mich ein großes Glück.
Mich erfüllen die gegenwärtigen Bestrebungen, das Erinnern an den Holocaust einem Revisionismus zu unterziehen mit Sorge. Deshalb sehe ich als Erfüllung des Vermächtnisses meines Urgroßvaters auch das Beschäftigen mit diesen Bestrebungen und beteilige mich aktiv an der Pflege eines historisch gerechten Erinnerns an die Opfer von Holocaust und Faschismus. Ebenso möchte ich noch mehr erfahren, wie sich das Leben assimilierter deutscher Juden in Deutschland vollzog und welchem Mechanismus das Umschwenken des Miteinanders mit dem jüdischen Nachbarn nebenan bis 1933 folgte.
Peter Blechschmidt in Chemnitz, 31.03. 2018